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Edler Wilder

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Der Edle Wilde ist ein Idealbild[wp] des von der Zivilisation unverdorbenen Natur­menschen[wp]. Das Konzept drückt die Vorstellung aus, dass der Mensch ohne zivilisatorische Bindungen von Natur aus gut sei. Er ist bis heute ein beliebter Topos[wp] kultur­kritischer[wp] Autoren. In der modernen Ethnologie[wp] gilt der Begriff der Edlen Wilden als längst überholte These.[1]

Nach der europäischen Entdeckung[wp] und Eroberung Amerikas erfreute sich dieser Gedanke einer relativ großen Popularität, den besonders Alonso de Ercilla y Zúñiga[wp] in seinem Epos La Araucana[wp] (um 1570) ausdrückte. Hundert Jahre später griff John Dryden[wp] diese Idee wieder auf, und insbesondere in der Romantik[wp] fand diese Vorstellung erneut eine positive Rezeption in europäischen Gesellschaften. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau[wp] ist einer der prominenten Vertreter dieser idealistischen Vorstellung.[2]

Zitat: «Es ist denktheoretisch möglich, dass jemand vergleichsweise arm dran und dennoch gefährlich ist. Das Märchen vom "edlen Wilden", dieser Wohlfühl­rassismus der Guten, ist eben das: ein Märchen. Der aufgeklärte Mensch erkennt und benennt das ethische Dilemma, um dann an dessen Auflösung zu arbeiten.» - Dushan Wegner[3]

Der Mythos von den harmonischen Naturvölkern

Das Lied "Cortez the Killer"[wp] von Neil Young[wp], welches vom Rolling Stone Magazin[ext] auf Platz 321 der besten Songs aller Zeiten gewählt wurde, beinhaltet folgende Textzeilen:
Am Ufer lag Montezuma[wp]
Mit seinen Kokablättern und Perlen
In seinen Sälen wunderte er sich oft
Über die Geheimnisse der Welt.
Und die Frauen waren alle schön
Und die Männer standen aufrecht und stark
Sie gaben Leben als Opferungen
Damit andere weiterleben konnten.
Und seine Untertanen versammelten sich um ihn
Wie die Blätter um einen Baum
In ihren Kleidern aus vielen Farben
Damit die erzürnten Götter sie sehen würden.
Haß war nur eine Legende
Und Krieg war niemals bekannt
Die Menschen arbeiteten zusammen
Und sie hoben viele Steine.(1)

Was in Neil Youngs[wp] Song von 1975 zum Ausdruck kommt, ist eine romantische Vorstellung von Natur­völkern[wp], wie sie sicherlich auch heute noch im Bewusstsein vieler Menschen existiert. Erfolgreiche Filme wie zuletzt "The New World"[wp] oder "Avatar"[wp], und schon ältere Klassiker wie "Der mit dem Wolf tanzt"[wp], sind Ausdruck dieser Verklärung des Lebens von Naturvölkern. Es heißt, sie würden im Einklang mit sich, ihren Nachbarn und der Natur leben, während der Stadt­bevölkerung der westlichen Welt jegliche Beziehung zur Natur und internem sozialen Zusammenhalt verloren­gegangen seien, was zu allerlei sozialen Konflikten, individuellen Depressionen, Selbstmord, Kriminalität aller Art, Mord und Krieg führen würde. Diese Vorstellung ist alles andere als neu.

Schon antike Denker wie Aristophanes[wp] und Tacitus[wp] drückten dergleichen aus. Aber erst im 18. Jahrhundert gewann diese Sichtweise enorm an Bedeutung. Durch die zunehmende Verstädterung traten soziale Konflikte öffentlich wahrnehmbar auf. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau[wp] führte den Begriff des "Edlen Wilden" zu jener Zeit in den allgemeinen Sprach­gebrauch ein. Das Bild von der harmonischen Geselligkeit des "Wilden" ging aber zwangsläufig auch mit der Vorstellung vom Untermenschen, der eher einem Affen oder einem Ungeheuer gleiche einher. Rousseau gründete sein berühmtes Portrait des "Edlen Wilden" zum Beispiel auf die Beschreibung eines Orang-Utans.(2)

Mit dem expandierenden Kolonialismus im 19. Jahrhundert kam der Westen in engsten Kontakt mit einer Vielzahl fremder Kulturen und Lebens­weisen. Einflussreiche Forscher wie W.H. Morgan, Henry Maine[wp], Max Weber[wp] und nicht zuletzt Karl Marx[wp] bescheinigten dem neuen Stadt­bürger einen Verlust seines harmonischen Sinns für die Gemeinschaft, den sich die Naturvölker noch bewahrt hätten. Anthropologen und Ethnologen studierten primitive Gesellschaften, die oft isoliert von den Einflüssen fort­schritt­licherer Kulturen für Hunderte von Jahren existiert hatten. Ihre Berichte entsprachen der idealisierten Vorstellung von den Naturvölker. So schrieb Jane Belo zum Beispiel über die Balinesen[wp]: "Die Säuglinge weinen nicht, die kleinen Jungen balgen nicht, die jungen Mädchen benehmen sich mit Anstand... Jeder erfüllt die ihm über­tragende Aufgabe voll Respekt für die ihm Gleich­gestellten und die ihm Über­geordneten und mit Sanftheit und Rück­sicht­nahme auf die von ihm Abhängigen."(3) Dieser harmonische Zustand soll einst in allen menschlichen Gesellschaften geherrscht haben. Der Anthropologe Robin Fox[wp] beschrieb die Umwelt der Menschheit in der Steinzeit als eine, in der "...eine Harmonie der Merkmale, die wir als Spezies entwickelt hatten, einschließlich unserer Intelligenz, unserer Einbildungs­kraft, unserer Gewalt­tätigkeit, unserer Vernunft und unseren Leiden­schaften bestand. Diese Harmonie haben wir verloren."(4)

Durch die fortschrittlichen antirassistischen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Ansicht, Angehörige von Naturvölkern seien in irgendeiner Form "Untermenschen" überwunden. Was blieb vom Bild des "Edlen Wilden" war lediglich das Edle, das harmonische Zusammenleben. Möglicherweise wurde auch ein Teil der Vorstellung vom "Edlen Wilden" auf die Tierwelt projiziert. Jane Goodall[wp] und ihre vermenschlichten, verklärten "Gorillas im Nebel" mögen hier als Beispiel dienen. Auch der Film "Instinkt"[wp] mit Anthony Hopkins[wp] zielt in die gleiche Richtung.

Wenn die Anthropologen des 19. und 20. Jahrhunderts primitive Gesellschaften vorfanden, die offensichtlich nicht in völliger Harmonie lebten, schrieben sie diesen Zustand den desorganisierenden Wirkungen des Kontakts mit anderen Kulturen zu, zumeist der europäischen. Darüber hinaus waren (und sind) die Theorien des Funktionalismus bzw. Adaptivismus in der Anthropologie und Ethnologie weit verbreitet und findet entsprechend häufig Anwendung in der Forschungspraxis. Danach wird auch extrem unmoralischen Praktiken wie rituellen Vergewaltigungen, Kindesmord und Sklaverei eine positive gesellschaftliche Funktion unterstellt. Das Leid der Einzelpersonen, die nicht selten mit dem Leben bei der Ausübung derartiger Praktiken bezahlen müssen, soll auf die eine oder andere, oft nicht näher beschriebene Weise das soziale Miteinander auf­rechter­halten. Dem führenden Funktionalisten der 1920er und 1930er Jahre des letzten Jahrhunderts, Bronisław Malinowski[wp], zufolge "...erfüllt jede Art Zivilisation, jeder Brauch, jedes materielle Objekt, jede Idee und jeder Glaube eine lebens­wichtige Funktion; sie hat irgendeine Aufgabe zu erfüllen und repräsentiert einen unverzichtbaren Teil innerhalb eines funktionierenden Ganzen."(5)

Dass solche kulturrelativistischen Vorstellungen nichts als "sentimentaler Unsinn"(6) sind, wird hoffentlich aus den nun folgenden Ausführungen ersichtlich. Die Beispiele sind dem Buch "Trügerische Paradiese - Der Mythos von den glücklichen Naturvölkern" von Robert B. Edgerton[ext] (7) entnommen.

Eine der großen Anklagen gegen die westliche Kultur ist, dass ihr der menschliche Zusammenhalt verloren­gegangen sei. Und natürlich stimmt dies insofern, als dass man in einer Stadt mit vielen tausend Einwohnern nicht jeden Menschen persönlich kennenlernen kann. Dagegen wird vermutet, dass kleine Volksstämme von Natur­völkern einen sehr starken Zusammenhalt besitzen und sich persönlich umeinander sorgen. Sicher mag dies in einigen Fällen zutreffen, ebenso wie es in einigen Gemeinden und Dörfern der westlichen Welt zutreffen mag. Aber es gibt auch eindeutig gegenteilige Beispiele.

Allan R. Holmberg[wp] lebte 1941 und 1942 mit den Sirionó[wp]-Indianern im bolivianischen Regenwald. Er war nach eigenen Angaben häufig verblüfft über den geringen sozialen Zusammenhalt, sogar innerhalb von Familien. So berichtete er von einer Begebenheit, als ein Mann allein auf die Jagd gegangen war und, von der Dunkelheit überrascht, den Weg zurück zum Lager nicht mehr fand. In großer Angst rief er wiederholt um Hilfe, aber seine Verwandten, die ihn im Lager hören konnten, antworteten nicht. Nach einer halben Stunde hörten die Rufe auf, woraufhin die Schwester des unglücklichen Jägers meinte: "Wahrscheinlich hat ihn ein Jaguar erwischt."(8) Tatsächlich überlebte der Mann jedoch, indem er die Nacht auf einem Baum verbrachte. Bei seiner Rückkehr am nächsten Morgen wurde er von niemandem empfangen. Anstatt glücklich über die Rückkehr ihres Bruders zu sein, beschwerte sich die Schwester noch darüber, dass er nur einen geringen Teil seiner Beute mit ihr teilen wollte.

Wie Holmberg weiter festhielt, war den Sirionó der Erwerb von Nahrung weitaus wichtiger als irgendwelche sozialen Praktiken, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt hätten fördern können. In unserer westlichen Gesellschaft hat das gemeinsame Mahl einen hohen Stellenwert und führt zu größerer sozialer Nähe. Die Sirionó aßen häufig allein im Wald und waren erfinderisch im Verstecken weiterer Nahrung vor ihren Volksgenossen. Frauen versteckten mitunter Nahrung in der Vagina.

Die soziale Kälte der bolivianischen Eingeborenen erreichte ihren Höhepunkt im Umgang mit kranken und alten Menschen der eigenen Gemeinschaft. Betagte Stammes­angehörige, die Probleme hatten, dem nomadischen Lebensstil zu folgen, wurden ohne Erbarmen zurück­gelassen. Sie krochen der auf­brechenden Gruppe hinterher, bis sie kraftlos zusammen­brachen und allein im Wald starben. Das gleiche Schicksal drohte jedem, der so krank wurde, dass er der Gruppe bei ihren Wanderungen nicht mehr aus eigener Kraft folgen konnte. Natürlich führte diese Behandlung schwer erkrankter Stammesmitglieder zu panischer Angst davor, krank zu werden. Als wichtigstes Krankheits­symptom galt den Sirionó, dass jemand keinen Appetit mehr entwickelte. Wenn sich also jemand krank fühlte, aß er besonders viel, um vorzutäuschen, nicht krank zu sein. Das konnte soweit gehen, dass Kranke sich zwangen, solche Unmengen an sauren Früchten und ähnlichem zu verzehren, dass sie letztlich in Folge dessen daran verstarben.(9)

Ein anderes Beispiel für fehlenden sozialen Zusammenhalt stammt aus Afrika. Der berühmte Anthropologe Colin Turnbull[wp] war so entsetzt über das enthumanisierte, rücksichts­lose Verhalten der Ik[wp], dass er einem Beamten der ugandischen Regierung riet, sie mit Gewalt zusammen­zu­treiben und über das ganze Land zu zerstreuen. Es ging Turnbull nicht darum, die unter­ernährten Ik vor dem Hungertod zu bewahren. Vielmehr wollte er sicher­stellen, dass "ihre asoziale, lieblose Kultur zusammen mit ihnen ausstürbe und so nie mehr andere Menschen verderbe." (10)

Medizin

In der westlichen Welt, besonders in esoterischen Kreisen, ist das Bild des "weisen Schamanen"[wp] ein wichtiger Bestandteil des Mythos der harmonischen Naturvölker. In der Realität zeigt sich jedoch ein sehr trostloses Bild.

Wie viele andere Naturvölker besaßen auch die Sirionó[wp] keinerlei medizinisches Verständnis, weshalb böse Geister als die alleinigen Urheber von Krankheiten identifiziert worden sind. Es wurde auf jedwede Hilfeleistungen für Kranke und hygienischen Schutz­maßnahmen verzichtet. Exkremente wurden häufig nicht entsorgt, sodass Kinder mit ihren eigenen oder fremden Exkrementen spielten und man achtete auch nicht darauf, die Sauberkeit der Trinkwasser­quellen, etwa durch die räumliche Trennung von den Abortorten, sicherzustellen.

Das vollständige Fehlen eines Schutzes von Kindern ist bei vielen Naturvölkern zu beobachten. Die Angehörigen afrikanischer Hirten­völker wie der Massai[wp], der Pokot[wp] oder Samburu[wp] entfernen den Kindern grundsätzlich keine Fliegen von den Augen, weil Fliegen mit Rinderkot in Verbindung stehen und Rinder als Statussymbol und Sinnbild des Wohlstands aufgefasst werden. Das Risiko der Ansteckung mit der durch Fliegen auf den Menschen übertragenen und oft zu Erblindung führenden Entzündung Trachom ist bei Kindern entsprechend hoch. Bilder von fliegen­befallenen Kinder­gesichtern werden in den westlichen Medien gerne als Indiz für die elenden Zustände in Teilen Afrikas verwendet. In Wahrheit liegen die Ursachen in einem quasi­religiösen Aber­glauben von der Heiligkeit der Kühe, des Kuhdungs und damit auch der Fliegen.

Die Yoruba[wp] in Nigeria verabreichten Kindern, die an Krämpfen litten, eine übel­riechende Mixtur aus Tabak­blättern, Urin und manchmal noch Gin. Das Gebräu enthielt dermaßen viel Nikotin, dass die Kinder ins Koma fielen und nur gerettet werden konnten, da sie von den anwesenden Anthropologen in ein nahe gelegenes Krankenhaus mit nach europäischen Standards human­medizinisch ausgebildetem Personal gebracht wurden.

Bei den Pokot in Kenia bestand die "Behandlung" von Stammes­angehörigen, die an Psychosen litten, darin, diese zunächst mit Gewalt zu Boden zu drücken und danach mit einem recht großen Stein längere Zeit auf den Kopf zu schlagen. Die Anwendung dieser stein­zeitlichen Praxis führt oft zum Tod psychotischer Personen.

Auch die Serbei in Uganda standen Krankheiten absolut hilflos gegenüber. Kopf­schmerzen wurden dadurch behandelt, dass man der an dieser Beschwerde leidenden Person eine erhitzte Speerspitze auf die Stirn drückte, was zwangsläufig dazu führte, dass Kopf­schmerzen vom Betroffenen nicht mehr wahrgenommen worden sind und wahrscheinlich den mit dieser Methode behandelten Patienten davon abhielten sich erneut über Kopf­schmerzen zu beschweren.

Die im Norden Kanadas ansässigen Netsilik-Inuit[wp] glaubten, ein Säugling würde bei der Geburt einen giftigen Dampf absondern, weshalb schwangere Frauen zum Gebären allein in ein Zelt gesperrt worden sind. Im Falle von Komplikationen wurde bestenfalls ein Medizinmann herbeigerufen, der versuchte, durch Beschwörungs­formeln die als Ursache identifizierten bösen Geister auszutreiben. Jedwede Berührung von Frauen bei der Niederkunft unterlag einem Tabu.

Insgesamt war und ist die durchschnittliche Lebens­erwartung bei Angehörigen vieler Naturvölker aufgrund fehlenden medizinischen Wissens und unzureichender hygienischer Standards sehr gering. Bei den berühmten Yanomami[wp]-Indianern in Venezuela erreichten lediglich 22 % der Bevölkerung das 30. Lebensjahr. Bei den Xavante[wp] in Brasilien waren es sogar nur 15,4 %.

Unverständnis der natürlichen Umwelt und Unwissenheit bezüglich des Zustande­kommens von Krankheiten führen zwangsläufig dazu, dass permanente Furcht, das Leben bestimmt. Dem entsprechend antwortete ein "weiser Mann" der Iglulik[wp]-Inuit, der nach seinen Glaubens­vorstellungen befragt wurde: "Was wir glauben? Wir glauben nicht, wir fürchten uns nur." Diese Furcht manifestiert sich, wie beispielsweise bei den Sirionó, in einem weit verbreiteten und tief verwurzelten Glauben an die Existenz von Dämonen, Hexen und Menschen mit dem "bösen Blick"[wp]. Die in massen­panik­artiger Hysterie begründete Verfolgung und Verbrennung von Hexen und Hexern in Europa intensivierte sich in Folge der Verstädterung, weil in den im Unterschied zu ländlichen Siedlungen dichter besiedelten Städten wegen des geringen Gesundheits­bewusstseins und rudimentärer Hygiene­standards der dortigen Bevölkerung Krankheiten sich ungehindert ausbreiten konnten, die ihrerseits dem Wirken von Hexen und Hexern zugeschrieben worden sind. In Paris wurden Fäkalien noch bis ins 17. Jahrhundert einfach auf den Straßen entsorgt, während die aus dieser Praxis resultierenden Seuchen dem Wirken von Hexen und schwarzen Magiern angelastet worden sind. Erst der wissenschaftliche Fortschritt ermöglichte das Verständnis von Krankheiten und die Entwicklung der modernen Medizin. Viele Naturvölker sind weit entfernt entsprechende Erkenntnisse zu gewinnen. In bestimmten Fällen mögen Angehörige von Naturvölkern zufällig Pflanzen, Pilze oder Mineralien entdeckt haben, die bestimmte Wirkstoffe enthalten, die bei richtig dosierter Einnahme Schmerz­linderung bewirken, aber im Regelfall sind die Angehörigen primitiver Völker von Dämonen- und Hexen­glauben überzeugt.

Bei den Gebusi in Papua-Neuguinea führte ein virulenter Hexenglaube beispielsweise dazu, dass diese kleine Gesellschaft für eine bestimmte Zeitspanne eine der höchsten Mordraten weltweit besaß, wobei etwa ein Drittel aller Todesfälle auf Hinrichtungen von Hexen entfielen. Der Aberglaube vieler Naturvölker beinhalte auch die Opferung von Menschen. Die Skidi-Pawnee[wp]-Indianer in Nebraska brachten Menschen­opfer dar, um den heiligen Morgenstern gnädig zu stimmen, was mindestens bis 1834 oder vielleicht sogar für eine noch längere Zeit praktiziert wurde.

Die Inuit[wp], die zwar praktisch überaus nützliche Techniken zum Überleben unter den extremen klimatischen und geographischen Konditionen ihres Lebensraums entwickelt hatten, glaubten doch fest an die Existenz einer Vielzahl von gefährlichen Ungeheuern und über­natürlichen Wesen. Dazu gehörten Meerjungfrauen, die Menschen erst verführten und dann töteten, riesige Vögel, die dazu in der Lage sind, einen Erwachsenen zu ergreifen und davonzu­tragen, gewaltige Fische, die Jäger mit einem Biss komplett verschlingen konnten. Dieser Aberglaube hielt sie beispielsweise davon ab, gute Fischgründe ausfindig zu machen oder vorteilhafte Lagerplätze zu benutzen. Allerlei weitere Gespenster ängstigten die Inuit, wie so genannte "wilde Babys", die nachts an bestimmten Orten auftauchen und Inuit, die dort schliefen, zu Tode kitzeln.

Kinder

Der Inuit-Glaube an gefährliche "wilde Babys" und giftige Dämpfe während der Geburt, und die Praxis der Massai, ihre Kinder nicht von Fliegen zu befreien, sind gute Beispiele dafür, welch gestörtes Verhältnis viele Eltern in den Gesellschaften oder Gemeinschaften von Natur­völkern zu ihren Kindern haben.

Europäer, Nordamerikaner, Australier und Neuseeländer kennen die fotographischen oder filmischen Aufnahmen von schrecklich unter­ernährten Kleinkindern, beispielsweise aus Äthiopien. Die Mitglieder westlicher Gesellschaften, in denen das Wohl der Kinder in der Regel eine hohe Priorität genießt, weshalb Eltern eher selbst Hunger in Kauf nehmen, als dass sie zulassen, dass der eigene Nachwuchs hungert, nehmen irrigerweise an, dass dies auch in afrikanischen Gesellschaft der Fall sein müsse und in von Hungersnöten betroffenen afrikanischen Ländern die erwachsene Bevölkerung noch weitaus mehr leiden müsse als die Kinder. Dies trifft realiter jedoch nicht zu, weil etwa in Äthiopien, wie in weiten Teilen Ostafrikas, es Sitte ist, dass das jüngste Kind nur das Essen bekommt, das der Vater, die Mutter, die älteren Kinder und die Gäste nicht auf­gegessen haben. In ostafrikanischen Gesellschaft wird der Befriedigung der elementaren und anderen Bedürfnisse von Kindern, insbesondere den jüngsten, gegenüber jenen von Männern, Gästen und Frauen sowie gegebenenfalls älteren Geschwistern keine Vorrangigkeit zugestanden. Die Existenz von erwachsenen Hungeropfern in Afrika steht zwar außer Frage jedoch gilt zu bedenken, dass die schockierenden Bilder, die manchmal in den Ländern Europas und Nordamerikas im Fernsehen gezeigt werden und sich bestimmt auch im "kollektiven Bewusstsein" der westlichen Welt eingeprägt haben, in vielen Fällen auf die Tatsache zurück­zu­führen sein, dass die jüngsten Kinder nur dann Nahrung bekommen, wenn dieselbe in entsprechender Menge verfügbar ist.

Nicht nur in vielen Stammes­gesellschaften Afrikas stehen Kleinkinder an letzter Stelle der sozialen Rangfolge. Kindesmord war eine weit­verbreitete Praxis überall auf der Welt. Bei den Yanomami-Indianern gab es eine Regel, wonach es einer Frau vom Zeitpunkt der Feststellung ihrer Schwangerschaft bis zur Entwöhnung des Kindes verboten war, mit einem Mann Beischlaf auszuüben. Manche Paare wollten jedoch weder den Ablauf dieser Frist abwarten noch für die Abschaffung dieses Tabus protestieren, sondern töteten ihre Säuglinge, um danach wieder gesellschaftlich akzeptierten Koitus miteinander vollziehen zu können. In Folge dessen überlebten bei den Yanomami unglaubliche 43 % aller weiblichen Kinder das erste Lebensjahr nicht.

Die Ijaw[wp] in Nigeria, die sich zwar mehr Kinder wünschten, töteten jedoch grundsätzlich alle Zwillinge, selbst noch, als die britische Regierung dies als Mord einstufte und unter Strafe stellte. Die Ijaw begründeten diese Praxis der Kindestötung auf Nachfrage durch Außenstehende mit einer einschlägigen Tradition.

Frauen

Hilflosen Menschen in Stammes­gesellschaften - Alten, Kranken, Kindern - ergeht es häufig besonders schlecht. Aber auch Frauen werden im Allgemeinen durch die körperlich über­legenen Männer unter­drückt. Noch relativ gesittet ging es bei den Tasmaniern zu, die im 18. Jahrhundert zum erstmal in Kontakt mit Europäern kamen. Sie lebten in kleinen Volksstämmen mit 40 bis 50 Angehörigen und ernährten sich hauptsächlich vom Fleisch von Schalentieren und, in geringerem Maße, vom Fleisch bei der Jagd erlegter Waldtiere. In der tasmanischen Gesellschaft oblagen de facto alle Tätigkeiten, besonders aber die gefährlichsten, den Frauen. Die Männer blieben im Lager und unterhielten sich angeregt, während die Frauen Trink- und Nutz­wasser sowie Brennmaterial beschaffen und transportieren mussten.

Das lebensgefährliche Tauchen nach Schalentieren wurde ebenfalls ausschließlich von Frauen ausgeübt, wobei sie mit scharf­kantigen Felsen, un­berechenbaren Strömungen und giftigen Stachel­rochen konfrontiert waren. Sie mussten auch Opposums erschlagen und an schlafende Seehunde heranschwimmen, um selbige anschließend durch den Einsatz von primitiven Holz­keulen zu erlegen. Die Männer übten die Jagd nur als Freizeit­aktivität, zu ihrem Vergnügen aus, wobei ihre Beutetiere Kängurus und Wallabys waren, die keinerlei Gefahr darstellten.

Die Frauen wurden trotz ihrer existenziell bedeutsamen wirtschaftlichen Funktion von den Männern schlecht behandelt, beispielsweise dadurch, dass man ihnen wohl­schmeckende Nahrung vorenthielt. Im Winter, wenn das Nahrungs­angebot zurückging, standen die Tasmanier oft kurz vor dem Hungertod. Dennoch verweigerten sich die Männer der Beteiligung an der Nahrungs­beschaffung. Die Ernährungs­situation der Tasmanier wurde noch durch die irrationale Weigerung verstärkt, Fischfleisch zu verzehren, obwohl es reiche Fischgründe in den umliegenden Gewässern gab. Als den Tasmaniern von Europäern gekochter Fisch angeboten wurde, lehnten sie selbigen angeekelt ab.(22) So wenig sie mit dem angebotenen Fisch anfangen konnten, so begeistert waren sie doch von den Hunden, die die Europäer mitgebracht hatten. Die männlichen Mitglieder der Stämme tauschten bereitwillig Frauen gegen Hunde ein, was wirtschaftliche und soziale Problemen zur Folge hatte, da jeder Stamm dazu gezwungen war, die weiblichen Mitglieder von Nachbar­stämmen zu entführen, was wiederum zu mörderischen Stammes­fehden führte.

Insgesamt waren die Tasmanier alles andere als gut angepasst an die natürlichen Bedingungen ihres Habitats. Sie bauten keine Hütten und besaßen keine Kleidung, so dass sie im Winter nicht nur hungerten, sondern auch froren. Sie konnten nicht einmal selbst Feuer machen. Irgendein Mitglied des Stammes musste ständig ein Stück brennendes Holz mit sich führen. Krankheiten traten in regelmäßiger Häufigkeit ein, was ihre wichtigste "Behandlungs­methode" bestand darin, den Patienten aus­zu­peitschen, bis dieser völlig blut­überströmt und entkräftet war. Bevor die Europäer kamen, verhinderte allein die völlige Isolation der Tasmanier die Auflösung der Stammes­gesell­schaften. Aber einmal in Kontakt mit einer anderen Kultur gekommen, brach die tasmanische Gesellschaft in kürzester Zeit zusammen.

Die tasmanischen Männer waren nicht die einzigen, die Frauen bessere Nahrung vor­enthielten. Den Inuit der Hudson Bay galt gekochtes Fleisch traditionell als "Männer­essen, das zu gut für Frauen" war.(23) Bei den Fore[wp] auf Papua-Neuguinea führte das Vor­enthalten von Tierfleisch dazu, dass die Frauen und Kinder in ihrer Not das Fleisch verstorbener Verwandter aßen, weshalb sie nicht selten an "kuru" erkrankten, einer tödlichen Virus­erkrankung, die durch Kannibalismus[wp] übertragen wird.(24)

Frauen wurden nicht nur bei der Verteilung von Nahrungsmitteln benachteiligt, sondern mussten sich auch jederzeit für die Ausübung des Koitus zur Verfügung stellen. Die männlichen Angehörigen der Mehinaku[wp]-Indianer in Brasilien drohten weiblichen Stammesgenossen regelmäßig Gruppen­vergewaltigungen an.(25) Bei den Gusii[wp] in Kenia war die Vergewaltigung nicht nur eine Drohung, sondern faktisch als soziale Konvention institutionalisiert. In der Hochzeits­nacht war es Brauch für die Frau, sich ihrem Bräutigam durch verschiedenste Tricks zu wider­setzen, wozu auch das Verknoten der Scham­behaarung über der Vagina gehörte. Vor der Tür standen jedoch die Freunde des Bräutigams bereit, die irgendwann einschritten, die Braut festhielten und ihre Beine mit Gewalt spreizten. Die traditionelle Aufgabe des Bräutigams bestand dann darin, den Geschlechts­verkehr mindestens sechsmal in der einen Nacht zu wieder­holen, wobei er der Frau so viele Schmerzen wie möglich zufügen sollte.(26) Insgesamt gab es bei den Gusii[wp] eine viermal höhere Vergewaltigungs­rate als zur gleichen Zeit in den USA. 1950 wurden so viele Männer wegen Vergewaltigung verurteilt, dass es nicht genug Gefängnis­zellen gab.

Man kann sich leicht vorstellen, was für eine gesellschaftliche Atmosphäre des Hasses und Misstrauens zwischen Männern und Frauen in solchen Gesellschaften herrschen muss. Bei den Pokot[wp] in Kenia aßen die Männer grundsätzlich keine Speisen, die von einer ihrer Ehegattinnen zubereitet worden waren, da sie Angst hatten, vergiftet zu werden. Bei den männlichen Angehörigen der Kamba[wp] und den Sebei in Uganda gab es ebenfalls ähnliche Vorsichts­maßnahmen.(27)

Bei Natur­völkern stellen Depressionen und Selbstmord aufgrund des angespannten Verhältnisses zwischen den Angehörigen beider Geschlechter, dem weitgehenden Desinteresse am Wohl der eigenen Kinder und älterer Menschen und den unbewältigten Folgen der mangelhaften oder fehlenden Lösung von Problemen bei der Nahrungs­beschaffung, Arznei­mittel­herstellung und heilkundlichen Behandlung sowie Errichtung von beständigen Behausungen Massen­phänomene dar. Bei den Bimin-Kuskusmin[wp] in Papua-Neuguinea stellte der Anthropologe F. P. Poole eine Selbstmord­quote von 10 % für die letzten sechs Generationen fest. Er selbst beobachtete in der kurzen Zeit, die er mit den Bimin-Kuskusmin lebte, dass von 58 Todesfällen 30 auf Selbstmord zurückzuführen waren, was 57 % aller Todesfälle entspricht. Die Anzahl der Freitod­androhungen und -versuche war ebenfalls enorm hoch, denn 67 Frauen drohten 93 Mal in ernstlicher Absicht mit Selbstmord.

Krieg, Sklaverei und Kannibalismus

Ein konstitutiver Bestandteil des Mythos der friedlichen, toleranten und harmonischen Naturvölker sind auch die unterstellten Eigenschaft des Pazifismus und eines generell großen Mitgefühls für alles Lebendige. Wenn jedoch Alte und Kranke gnadenlos zurück­gelassen werden, wenn Menschen geopfert werden, um Geister und Dämonen zu vertreiben, wenn Frauen vergewaltigt werden, wenn Kinder gequält und ermordet werden, dann wird es kaum überraschen, bei Natur­völkern auch all die anderen schrecklichen Praktiken zu entdecken, die gerne der modernen Zivilisation zu­geschrieben werden.

Die Inuit ermutigten ihre Kinder zum Beispiel, kleine Landtiere und Vögel zu Tode zu quälen. Die Erwachsenen wurden oft dabei beobachtet, wie sie tödlich verwundete Tiere verhöhnten und schlugen.(29) Nicht besser erging es ihren eigenen Hunden, die sich beim Ziehen der Schlitten verletzt hatten. Bevor sie zum Sterben zurück­gelassen wurden, malträtierte man sie erbarmungslos mit Tritten und Peitschen­hieben.(30)

Die Mbuti[wp] im Kongo gingen nicht besser mit ihren Hunden um, auf die sie, wie die Inuit, bei der Jagd angewiesen waren. Vom ersten Tag als Welpe bis zum Tod wurden die Hunde regelmäßig durch Tritte zu Disziplinierungs­zwecken physisch gezüchtigt. Colin Turnbull war regelrecht entsetzt, als er sah, mit welchem Vergnügen die Mbuti den qualvollen Todes­kampf verwundeter Tiere beobachteten.(31)

Die Machiguenga[wp]-Indianer im peruanischen Amazonas­gebiet rieben ihren Jagdhunden Chili-Schoten in die Schnauze und zwangen sie dann, diese herunter­zu­schlucken. Und zwar "...eher zum Spaß, den sie daraus bezogen, dass sie zusahen, wie die Tiere aufheulten, wie verrückt umherliefen und sich in Qualen wanden, als zur Vorbereitung auf die Jagd."(32)

Wie die Hexenverfolgung[wp], die in den vor­wissen­schaftlichen Gesellschaften Europas weit verbreitet war, und die ebenfalls bei vielen Natur­völkern beobachtet werden konnte, wurden von selbigen Kriege geführt und Sklaven­haltung praktiziert. Die Chumash[wp]-Indianer Kaliforniens hatten nicht nur soziale Klassen, die auf einem ausgefeilten Muschel­geld­system beruhten, sondern hielten auch Sklaven. Ebenso die Kwakiutl[wp]-Indianer von Vancouver-Island. Bei ihnen machten die Sklaven bis zu 15 % der gesamten Bevölkerung aus. Alle Sklaven waren dort das Eigentum der Häuptlinge.

In vielen romantisch verklärenden Darstellungen werden die Häuptlinge primitiver Gesellschaften als weise, gutherzige Führungs­persönlichkeiten portraitiert, die aufrichtiges Interesse am Wohl ihrer Untertanen hegten. In Wahrheit beruhten die proto-politischen Systeme vieler Volksstämme auf der Anwendung brutaler Gewalt, "sie Schreckens­regime zu nenne, wäre gar nicht so falsch".(33) Bemba[wp]-Häuptlinge in Simbabwe nahmen an ihren Untertanen beispielsweise "wüste Verstümmelungen" vor, einfach nur, weil sie das Gefühl hatten, verbal beleidigt worden zu sein.(34) Unter der Führung des berühmten Shaka zeigten die mächtigen Zulu[wp]-Armeen keine Gnade mit unterlegenen Stämmen, weshalb sie Frauen und Kinder ohne Rücksicht töteten. So zogen die Zulu 1826 gegen die Ndwandwe[wp] in den Krieg, nach nur eineinhalb Stunden war die entscheidende Schlacht vorbei, in dessen Zuge 40.000 Männer, Frauen und Kinder abgeschlachtet worden waren. Umliegende Stämme flohen in Todesangst, wodurch weite Landstriche in der Peripherie des Zulureiches[wp], völlig entvölkert waren.

Shaka benutzte brutalsten Terror auch gegen die eigene Bevölkerung. Seine Henker begleiteten ihn überall hin und er konnte durch die Ausführung einer entsprechend händischen Geste jede beliebige Person zum Tode verurteilen. Dem Verurteilten wurde der Schädel eingeschlagen oder das Genick gebrochen, sodann schlugen die Soldaten wie in einem Zustand der Raserei auf den Leichnam ein und was übrigblieb, spießten sie auf einen Pfahl auf, der durch den Anus getrieben wurde.(35) Ein westlicher Beobachter wurde Zeuge, wie Shaka sechs Kinder, die noch keine zwölf Jahre alt waren, hinrichten ließ. Diese Gräueltaten waren eine tägliche Praxis im Reich Shakas.(36)

Nachdem seine Mutter gestorben war, erließ Shaka Befehle, die zum Tod von etwa 7000 Menschen führten. Nicht nur wurden zehn Mägde der Mutter lebendig mit dem Leichnam begraben. Shaka ließ auch alle Schwangeren des Königreichs töten. Nach all dem Morden verkündete er eine Fastenzeit zum Andenken an seine Mutter. Für ein Vierteljahr durfte weder Getreide geerntet, noch Milch getrunken werden, noch durfte irgend jemand den Beischlaf ausüben. Diese Anweisungen führten schließlich zur Rebellion der Zulu, die die zehn­jährige Terror­herrschaft Shakas beendete.

Gerade in Afrika kam es im 19. und 20. Jahrhundert zu groß­angelegten Massakern, woran die europäischen Kolonial­truppen in vielen Fällen mitschuldig waren. Aber auch der Aberglaube vieler Natur­völker und das blinde Vertrauen in die Kräfte selbst­ernannter Propheten erwiesen sich in vielen Fällen als fatal. 1905 kam es in Tansania zum so genannten Maji-Maji-Aufstand[wp] (Suaheli für "Wasser, Wasser") der ansässigen Stämme gegen die rücksichts­losen deutschen Kolonial­truppen. Ein Prophet hatte verkündet, die Kugeln der Deutschen würden sich vor dem Aufprall in Wasser verwandeln. Im festen Glauben an die Richtigkeit dieser Prophezeiung kamen Abertausende von Kriegern im Maschinen­gewehr­feuer der Deutschen um.(37)

Kriege waren nicht nur bei großen Völkerschaften wie den Zulu verbreitet. Auch kleine Gesellschaften führten mitunter durchgängig Krieg gegen ihre Nachbarn. Die Mae Enge in Papua-Neuguinea befanden sich in einem dauerhaften Kriegszustand um Ackerland mit ihren Nachbarn. 25 % aller Todesfälle bei der männlichen Bevölkerung waren direkte Folge der Kriegs­handlungen. Zusätzlich herrschte ein gesellschaftliches Klima ständiger Angst vor erneuten Angriffen.

Als der angesehene Sozial­anthropologe Edward E. Evans-Pritchard[wp] 1940 die Nuer[wp] im Sudan beschrieb, stellte er fest, dass sie keinerlei soziale Mittel entwickelt hatten, um Streitigkeiten friedlich beizulegen. Laut Evans-Pritchard sagten die Nuer selbst, daß "eine Fehde niemals ende".(38) Ständige Vergeltungs­aktionen bis hin zum Mord waren die Norm in der Gesellschaft der Nuer.

Die Tonkawa[wp] in Texas praktizierten, wie viele amerikanische Indianer­stämme, Kannibalismus. Die in ihrem Appetit auf Menschen­fleisch begründeten Überfälle auf andere Volksstämme zur Beschaffung von Menschen als Nahrungsquelle war so groß, dass sich sechs der betroffenen und bis dato keinerlei oder nur minimale Beziehungen miteinander gepflegten Nachbar­stämme dazu gezwungen waren, eine Koalition zu bilden, um die Überfalle der Tonkawa gewaltsam zu beenden, was 1862 zu einem Krieg zwischen selbiger einerseits und den Tonkawa andererseits führte, in dessen Zuge die Hälfte der Tonkawa getötet worden sind.

Beispielfall Azteken

Ein prominenter Beispielfall für die romantische Verklärung eines nicht-europäischen Volkes bilden die Azteken[wp] Mittel­amerikas, die in Neil Youngs Lied zum kollektiven Träger einer friedlichen und harmonischen Kultur mythologisiert worden sind, und deren Idealisierung seit Jahrhunderten in der westlichen Gesellschaft fortbesteht. In Wahrheit waren die Azteken ein zutiefst grausames Volk mit einigen der widerlichsten Praktiken, die es je in menschlichen Gesellschaften gegeben hat. Das Reich war eine Theokratie, mit einem nahezu absolute Macht innegehabten Gottkönig an der Spitze, welchem eine kleine Elite aus Priestern und Generälen unmittelbar unterstellt war. Durch ständige Überfälle auf benachbarte Gesellschaften und daraus resultierende Plünderungen und Tribut­zahlungen häufte die Militär­elite einen immensen Reichtum an, der jedoch nicht von oben nach unten zugunsten der Allgemein­bevölkerung umverteilt wurde. Diese Praxis unterschied das Aztekische Reich natürlich nicht von vielen anderen Gesellschaften ihrer Epoche.

Was die Azteken einzigartig machte, war ihr unersättlicher Hunger auf Menschen­fleisch. Es wird geschätzt, dass zwischen 15.000 und 250.000 Menschen jährlich im "kannibalistischen Königreich"(39) der Azteken ermordet wurden, indem ihnen die Priester in einem Ritual bei lebendigem Leibe das Herz aus der Brust herausschnitten. Der hohe Organisations­grades und die Professionalität der serienmäßig praktizierten Menschen­opfer­rituale erreichten eine quasi-industrielle Dimension. Edgerton beschreibt den Ablauf in seinem Buch folgender­maßen: "Die Leichname der Geopferten wurden die Tempel­stufen hinabgerollt (die wahrscheinlich eigens zu diesem Zweck derart steil gebaut worden waren, um diesen Vorgang zu ermöglichen), wo sie von Priestern in Empfang genommen wurden, die sie so geschickt und leiden­schafts­los töteten, wie jeder Schlachter es mit einer Rinderhälfte tun würde, ehe die verschiedenen Teile davon­getragen, gewürzt, gekocht und mit großem Genuss verspeist wurden. Das Verlangen nach Menschen­fleisch war so groß, dass viele Kriege aus keinem anderen Grund geführt wurden als dem, eine möglichst große Zahl von feindlichen Soldaten eigens zur rituellen Opferung in Gefangenschaft zu nehmen, und faktisch führte man ununterbrochen militärische Einsätze gegen benachbarte Gesellschaften durch."(40) Darüber hinaus wurden gefangene Kinder nicht selten in Käfige gesperrt und dort einem erbärmlichen Hungertod über­lassen.

Die Ruinen der Pyramiden­tempel, die heute als jährlich von einer großen Zahl von Touristen besuchten und besichtigten Sehens­würdigkeiten dienen, sind stein­gewordene Zeugnisse eines grausamen und aggressiven Naturvolkes, das seine Macht nur dadurch erreichen, festigen und erweitern konnte, indem es die Angehörigen von Nachbar­völkern zu in Kriegen zu Tausenden ermordete und als Nahrungsquelle benutzte. Cortés, der mit nur 500 Männern in Mexiko gelandet war, hätte die Azteken niemals besiegen können, wenn sich die um­liegenden Völker und Volksstämme, die so brutal von den Azteken tyrannisiert worden waren, nicht mit größter Bereit­willigkeit am Kampf gegen das blut­rünstige aztekische Reich beteiligt hätten.

Die völlig ahistorische, romantische Verklärung, die in Liedern wie "Cortez the Killer"[wp], in Filmen wie "Avatar"[wp] oder "Der mit dem Wolf tanzt"[wp], in allen möglichen esoterischen Kreisen und bei vielen Umweltschutz­aktivisten festgestellt werden kann, zeigt deutlich, wie weit der Kulturrelativismus[wp] fort­geschritten ist. Die eigene Kultur wird zum schlimmsten Übel stilisiert, während die Missstände in anderen Gesellschaften verkannt, verharmlost und/oder verleugnet werden. Diese Haltung behindert einerseits die Würdigung und Verteidigung positiver Errungenschaften Europas und der westlichen Welt, wie Rationalität[wp], Individuation und Wissenschaft, und verhindert andererseits die Kenntnisnahme der tatsächlichen Ursachen und Hintergründe der Problemlagen der eigenen Kultur.


Die hier vorgestellten Fallbeispiele treffen natürlich nicht alle auf alle Gesellschaften zu. Ein bestimmtes Naturvolk mag weitaus fried­liebender sein als ein anderes, aber alle sind mit sozialen Konflikten konfrontiert, die insgesamt durchaus mit denjenigen der westlichen Zivilisation vergleichbar sind. Im Gegenteil, in den meisten Fällen sind Mord- und Vergewaltigungs­raten viel höher als im Westen, sind massive Depressionen mit allen daraus resultierenden Manifestationen bis hin zum Selbstmord keine singulären Ausnahme­phänomene. Die abschließende Konklusion lautet, dass die Angehörigen von Natur­völkern im Durchschnitt weder glücklicher als die Menschen im Westen sind, noch in harmonische(re)n Gesellschaften leben.

Quellen:

(1) Originaltext von www.lyricsfreak.com; Übersetzung ins Deutsche durch den Autor
(2) Vgl. R. Wockler, Perfectible Apes In Decadent Cultures: Rousseau's Anthropology Revisited (1978), S. 107-134
(3) J. Belo, The Balinese Temper (1935), S. 120-146
(4) R. Fox, The Violent Imagination (1990), S. 3
(5) B. Malinowski, "Anthropology"-Eintrag in der Encyclopaedia Britannica (1936), S. 132
(6) G. P. Murdock, Culture and Society (1965), S. 146
(7) R. B. Edgerton, Trügerische Paradiese - Der Mythos von den glücklichen Naturvölkern (1994), Ernst-Kabel-Verlag
(8) A. R. Holmberg, Nomads of the Long Bow: The Sirionó of Eastern Bolivia (1969), S. 160
(9) ibd., S. 229
(10) R. B. Edgerton, Trügerische Paradiese (1994), S. 16
(11) V. MacLean, Magical Medicine. A Nigerian Case-Study (1971), S. 84
(12) R. B. Edgerton, A Traditional African Psychiatrist (1971)
(13) K. Rasmussen, The Netsilik Eskimos (1931)
(14) R. Wirsing, The Health of Traditional Societies and the Effects of Acculturation (1985), S. 305
(15) zit. nach Hoebel (1954), S. 70
(16) B. M. Knauft, Good Company and Violence: Sorcery and Social Action in a Lowland New Guinea Society (1985)
(17) G. E. Hyde, The Pawnee Indians (1974)
(18) R. B. Edgerton, Trügerische Paradiese, S. 154
(19) N. A. Chagnon, Yanomami Warfare, Social Organization and Marriage Alliances (1967), S. 53ff
(20) R. Wirsing, The Health of Traditional Societies and the Effects of Acculturation (1985), S. 305
(21) P. E. Leis, The Nonfunctional Attributes of Twin Infanticide in the Niger Delta (1965)
(22) R. M. Jones, Why did the Tasmanians Stop Eating Fish? (1978)
(23) P. Freuchen, Der Eskimo (1982), S. 97
(24) S. Lindenbaum, Kuru Sorcery: Disease and Danger in the New Guinea Highlands (1979)
(25) T. Gregor, Male Dominance and Sexual Coercion (1990)
(26) R. A. LeVine, Gusii Sex Offenses: A Study in Social Control (1959), S. 965-990
(27) R. B. Edgerton, A Traditional African Psychiatrist (1971)
(28) F. P. Poole, Among the Boughs of the Hanging Tree. Male Suicide Among the Bimin-Kuskusmin of Papua New Guinea (1985)
(29) N. H. H. Graburn, Severe Child Abuse Among the Canadian Inuit (1987)
(30) ibd.
(31) C. Turnbull, The Forrest People (1961), S. 101
(32) M. Baksh, Cultural Ecology and Change of the Machiguenga Indians of the Peruvian Amazon (1984), S. 99
(33) R. B. Edgerton, Trügerische Paradiese, S. 123
(34) A. I. Richards, The Political System of the Bemba Tribe - North-eastern Rhodesia (1940)
(35) R. B. Edgerton, Trügerische Paradiese, S. 126
(36) N. Isaacs, Travels and Adventures in Eastern Africa Descriptive of the Zoolus, Their Manners, Customs (1970), S. 62
(37) J. Iliffe, A Modern History of Tanganyika (1979)
(38) E. E. Evans-Pritchard, The Nuer: A Description of the Modes of Livelihood and Political Institutions of a Nilotic People (1940)
(39) M. Harner, The Ecological Basis for Aztec Sacrifice (1977)
(40) R. B. Edgerton, Trügerische Paradiese, S. 126
– Raphael Haumann[4]

Einzelnachweise

  1. Lutz Huth; Michael Krzeminski: Repräsentation in Politik, Medien und Gesellschaft. Königshausen & Neumann, 2007 ISBN 3-8260-3626-3, S. 230 ff.
  2. WikipediaEdler Wilder
  3. Dushan Wegner: Deine Meinung ist Hass, und Hass ist keine Meinung, AchGut-Blog am 27. März 2018
    Anreißer: Im Fernsehen wird der Mangel an Meinungsfreiheit kritisiert, also der Mangel in Russland und China, nicht der in Deutschland. Logisch, warum sollte man auch? In Deutschland herrscht Meinungsfreiheit und keine Zensur, und wenn dem anders wäre, würde das Fernsehen uns zeitnah davon berichten, und wer was anderes sagt, der bekommt Ärger. [...] Die meisten Menschen fliehen vor kognitiver Dissonanz, der gleichzeitigen Wahrnehmung inkompatibler Wahrheit. Einige aber, nicht viele, reagieren ganz anders, und sie sind angesichts eines ordentlichen Paradoxes glücklich wie ein Kind im Bonbonladen.
    Es ist kompliziert, Dushan-Wegner-Blog am 21. März 2018
  4. Der von "ViaVeto" stammende Text wurde von der WikiMANNia-Redaktion stilistisch überarbeitet.

Netzverweise

Dieser Artikel basiert auf dem Artikel Der Mythos von den harmonischen Naturvölkern von ViaVeto, 27. Juli 2011.