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Sekundärer Antisemitismus
Den Begriff sekundärer Antisemitismus gebrauchte Theodor W. Adorno[wp] 1962 in dem Radiovortrag "Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute". Er knüpfte dabei an Überlegungen an, die sich in verschiedenen Veröffentlichungen wie dem Essay "Schuld und Abwehr" (1954) fanden, die unterschiedliche Aspekte des "Nachleben[s] des Nationalsozialismus in der Demokratie" beleuchteten.[1] Später hat sich in Deutschland alternativ auch der Begriff "Schuldabwehr-Antisemitismus" etabliert.[2] Bekannt sind auch Henryk M. Broders Formulierungen aus den 1980er Jahren, es handele sich um eine Judenfeindschaft "nicht trotz, sondern wegen Auschwitz".[3] Broder bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Adornos Vortrag von 1962.
Entwickelt wurde das Konzept sekundärer Antisemitismus im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts, in dem die Einstellungsmuster in der deutschen, postfaschistischen Gesellschaft untersucht wurden. Dabei konzentrierte sich das Frankfurter Institut für Sozialforschung weniger auf alte Nationalsozialisten als auf die Deutschen, die sich nach 1945 den neuen Gegebenheiten, der Kriegsniederlage und dem Besatzerstatut, anpassten. Die Kritische Theorie[wp] beschrieb zu dieser Zeit eine Judenfeindschaft, die nicht mit dem Nazi-Antisemitismus identisch ist, sondern sich gerade in Abgrenzung zur nationalsozialistischen Ideologie entwickelt haben soll.
In dem Radiovortrag "Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute" erklärte Adorno, wie es dazu komme, dass bestimmte Formen der Judenfeindschaft im Nachkriegsdeutschland wiederaufleben. Bei einer Umfrage habe sich herausgestellt, dass "Kinder aus kleinbürgerlichen und zum Teil auch aus proletarischen Kreisen eine gewisse Neigung zu antisemitischen Vorurteilen haben. Wir bringen das damit zusammen, daß die Eltern dieser Kinder seinerzeit zu der aktiven Gefolgschaft des Dritten Reiches gehörten. Sie sehen heute nun sich gezwungen, ihren Kindern gegenüber ihre damalige Haltung zu verteidigen, und werden dadurch fast automatisch veranlaßt, ihren Antisemitismus aus den dreißiger Jahren aufzuwärmen."[4]
Dieser neue, sekundäre Antisemitismus ergab sich also aus den innerfamiliären Narrativen: Die Generation der Täter versuchte, ihr Verhalten während der Nazi-Zeit[wp] zu rechtfertigen, und verwies dabei z. B. auf die "reichen Juden" oder deren angeblichen großen Einfluss während der Weimarer Republik[wp]. Die Generation der Kinder übernahm diese Sichtweisen und Stereotype, teils aus Unwissenheit, teils um mit den Eltern nicht in einen Konflikt zu geraten.
Dazu kam eine weitere Motivation, die Adorno in dem Essay "Schuld und Abwehr" ausführlicher behandelte. Auch in diesem Essay ging es um die Besonderheiten der Judenfeindschaft, die erst in der Nachkriegssituation entstanden sein konnte. Bei einer Erhebung habe sich, so Adorno, gezeigt, dass "die furchtbaren Tatsachen der nationalsozialistischen Judenverfolgungen im allgemeinen nicht zu einer radikalen Abkehr vom Antisemitismus geführt"[5], sondern vielmehr eine neue Variante des Antisemitismus motiviert hatten. Die befragten Personen waren mitunter keine überzeugten Nazis (mehr). Doch ihre Aussagen offenbarten eine feindselige Haltung gegen Jüdinnen und Juden, weil die befragten Personen Überlebende der Shoah oder generell "Juden" als "Repräsentanten oder Verkörperungen einer unerwünschten oder verdrängten Erinnerung" wahrnahmen.[6] Zentral für diesen Erklärungsansatz ist die Annahme, hinter dieser neuen Judenfeindschaft steckten bewusste oder unbewusste Schuldgefühle, eine Schuld, die abgewehrt und auf die Jüdinnen und Juden projiziert würde. So schrieb Adorno grundsätzlich: "Wenn man Schuldgefühle und Verantwortung gegenüber dem von den Nazis Begangenen abwehrt, so bedeutet das nicht nur, daß man sich reinwaschen will, sondern ebenso auch, daß man, was begangen ward, eben doch unrecht fand und darum ablehnt. Wäre das nicht der Fall, so bedürfte es nicht des Eifers der Distanzierung."[7][8]
Verwendungsbeispiele
Zitat: | «Die Restauration der deutschen bzw. österreichischen Nation nach 1945 kann nur über den sekundären Antisemitismus führen und muss sich so gegen das Judentum richten.» - Alex Gruber[9] |
Zitat: | «So lange in Deutschland des Holocausts gedacht wird, so lange gibt es Leute, die das unangenehm finden. Das bekannteste Beispiel ist Martin Walser[wp], der sich vor Jahren unter dem Beifall der versammelten deutschen Elite ausgerechnet in der Paulskirche[wp] dazu bekannte, lieber wegzusehen, wenn im Fernsehen wieder einmal die deutschen Verbrechen dargestellt werden und die Vermutung aussprach, "man" wolle "uns" damit verletzen. Für diese Art von Äußerungen und Haltungen, gibt es mittlerweile einen Begriff: Man redet von "sekundärem Antisemitismus".» - Alan Posener[10] |
Zitat: | «Regelmäßig geht Antifeminismus einher mit Verschwörungstheorien, die große formale Ähnlichkeiten zu solchen des klassischen und des sekundären Antisemitismus haben.» - Anonym[11] |
Kritik
Es gibt also neben dem Totschlagargument Antisemitismus noch die sekundäre Antisemitismus-Keule als Zweitschlagwaffe[wp]. Den strukturellen Antisemitismus gibt es ja auch noch. Da fragt man sich doch, ob nicht noch ein tertiärer Antisemitismus erfunden wird und warum noch nicht von einem sekundären Antifeminismus gesprochen wird.
Einzelnachweise
- ↑ Theodor W. Adorno[wp]: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit [1959], in: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969, Frankfurt a.M. 1971, 10
- ↑ Samuel Salzborn[wp]: Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich, Frankfurt a.M./New York: Campus 2010
- ↑ Henryk M. Broder: Der ewige Antisemit. Über Sinn und Funktion eines beständigen Gefühls [1986], Berlin 2006, 2. Auflage, 158-159
- ↑ Theodor W. Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute [1962], in: Das Argument. 29 (1964), 89-90
- ↑ Theodor W. Adorno: Schuld und Abwehr, 323
- ↑ Lars Rensmann: Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2005, 91
- ↑ Theodor W. Adorno: Schuld und Abwehr, 149-150
- ↑ Olaf Kistenmacher: Sekundärer und linker Antisemitismus vor und nach 1945, 19. April 2012
- ↑ Alex Gruber: Sekundärer Antisemitismus. Wiederkehr des Verdrängten. (calcül 6/1999)
- ↑ Alan Posener: Islamophobie und sekundärer Antisemitismus[webarchiv], starke-meinungen.de am 2. Februar 2010
- ↑ Über die Nähe des zeitgenössischen Antifeminismus im deutschsprachigen Raum zu Antisemitismus, Der Sand und das Meer am 16. Januar 2016
Netzverweise
- Philipp Gessler: Sekundärer Antisemitismus: Argumentationsmuster im rechtsextremistischen Antisemitismus, Bundeszentrale für politische Bildung 21. November 2006