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Umwertung aller Werte

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Umwertung aller Werte ist ein von Nietzsche[wp] im Jahre 1886 geprägtes Schlagwort, das seitdem wiederholt in seinen Schriften erklingt. Es war zum Titel eines großen moral­philo­sophischen Werkes bestimmt, an dessen Vollendung ihn der Schlaganfall des Jahres 1889 endgültig hinderte. Zuerst kündigte er es an auf dem Umschlag der ersten Ausgabe von "Jenseits von Gut und Böse". Vgl. die Mitteilung an seine Schwester vom 2. September 1886: "Für die nächsten vier Jahre ist die Ausarbeitung meines vierbändigen Hauptwerkes angekündigt; der Titel ist schon zum Fürchten-Machen: 'Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwertung aller Werte'." Erneut und nach­drücklichst kam er im folgenden Jahre in der "Genealogie der Moral" darauf zu sprechen. Vgl. auch 8, 59 (1888): "Eine Umwertung aller Werte, dies Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer, dass es Schatten auf Den wirst, der es setzt - ein solches Schicksal von Aufgabe zwingt jeden Augenblick, in die Sonne zu laufen, einen schweren, allzuschwer gewordenen Ernst von sich zu schütteln." Ebenda äußert er S. 92: "Die allgemeinste Formel, die jeder Religion und Moral zu Grunde liegt, heißt: 'Tue das und das, lass das und das - so wirst du glücklich! Im andren Falle -' ... In meinem Munde verwandelt sich jene Formel in ihre Umkehrung - erstes Beispiel meiner 'Umwertung aller Werte': ein wohlgeratener Mensch, ein 'Glücklicher', muss gewisse Handlungen tun und scheut sich instinktiv vor anderen Handlungen." Durch den im Jahre 1895 erschienenen ersten Teil des unvollendeten Werkes und die im 15. Band erfolgte Gesamt­publikation der Fragmente wurde der Titel mit neuer Schlagkraft in Kurs gesetzt und trug Nietzsche wohl auch den Beinamen des "großen Umwerters" ein.[1]

Auflösungsprozesse

Wie kaum ein anderer Denker diagnostiziert Friedrich Nietzsche[wp] (1844-1900) das Aufkommen des Nihilismus[wp], das heißt die Auflösung der die abendländische Kultur prägenden Werte. Die bisher geltenden Werte, die auf den Platonismus[wp], das Christentum, aber auch auf die Philosophie der Aufklärung zurückgehen, haben ihre Orientierungs­kraft verloren. Nietzsche bestimmt den Begriff des Nihilismus auf folgende Weise:
"Nihilism: es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das 'Warum?' was bedeutet Nihilism? - daß die obersten Werthe sich entwerthen." [2]

Zu den sich in Auflösung befindenden Werten gehören vorwiegend Wahrheit, Objektivität, die zentrale Stellung des Menschen, das erkennende Subjekt als Ausgangspunkt und Zentrum der Erkenntnis, Vernunft als Richtmaß des Erkennens und Handelns und die Moral, genauer: zentrale moralische Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit.

Nihilismus bedeutet für Nietzsche zunächst, dass es keine Wahrheit gibt, wobei er Wahrheit in einem meta­physischen Sinne als sie absolute Beschaffenheit der Dinge, als "Ding an sich" auffasst:

"Die 'wahre Welt' - eine Idee, die zu Nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend, - eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab!" [3]

Was sich anstatt einer festen Beschaffenheit der Dinge, anstatt von Tatsachen herausbildet, sind Kraftpunkte, aus denen unter­schiedliche Perspektiven hervorgehen, die wiederum unter­schiedlichen Inter­pretationen zugrunde liegen. Statt Tatsachen und Wahrheit gibt es nur unter­schiedliche Perspektiven und unter­schiedliche Inter­pretationen der Welt. Nietzsches erkenntnis­theoretische Positionen wird daher als Perspektivismus bezeichnet.

Nach Nietzsche kann es keine übergreifende bzw. ausgezeichnete Perspektive/Inter­pretation geben, keine, die Objektivität garantieren würde. Die einzige Funktion von Inter­pretationen ist es, dem Willen zur Macht zu dienen. Anders formuliert: Der Wille zur Macht entscheidet jeweils darüber, welche Perspektive und welche Inter­pretation bevorzugt werden soll. Tatsachen werden also durch Inter­pretationen ersetzt:

"Gegen den Positivismus[wp], welcher bei dem Phänomen stehen bleibt 'es giebt Thatsachen', würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Inter­pretationen. Wir können kein Factum 'an sich' feststellen ..." [4]

Diese Bestimmung des "Positivismus" ist veraltet und falsch, denn der moderne Positivismus, also die empirische Forschung geht davon aus, dass die Beobachtung immer schon theorie­beladen ist, d. h. in einem theoretischen Rahmen vonstatten geht.[5]

Nietzsche geht ferner davon aus, dass nicht nur die äußere Welt, sondern auch das erkennende und moralische Subjekt nichts "Gegebenes" ist. Vielmehr ist es etwas "Hinzu-Erdichtetes", "Dahinter-Gestecktes". Die Auflösung des Subjekt in Inter­pretationen bringt folgendes Zitat deutlich zum Ausdruck:

"Man darf nicht fragen: 'wer interpretiert denn?', sondern das Interpretieren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ein 'Sein', sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein Affekt. Die Entstehung der 'Dinge' ist ganz und gar das Werk der Vorstellenden, Denkenden, Wollenden, Erfindenden. (...) - Selbst 'das Subjekt' ist ein solches Geschaffenes, ein 'Ding', wie alle Andern ..." [6]

Die für den Nihilismus charakteristische Auflösung der Welt und des Subjekts in Kräfte­verhältnisse, Perspektiven und Inter­pretationen, die Konstruktion der Dinge und die herausragende Rolle der Macht werden wir später in den Schriften Michel Foucaults[wp] wiederfinden.

Doch der Nihilismus betrifft auch den Bereich der Moral. Nietzsche zufolge entsteht Moral immer aus partikularen, das heißt auf eine bestimmte Gruppe von Menschen ein­geschränkten Interessen. Und sie hängt von solchen Interessen immer ab. Eine allgemein­gültige, für alle Menschen geltende Moral ist für Nietzsche eine Täuschung. Eine Moral, die von gleichen Rechten für alle Menschen spricht, täuscht nur vor, für alle Menschen zu sprechen. In Wirklichkeit bringt sie nur die Interessen der Schwachen zum Ausdruck, die mit ihrer Hilfe die Herrschaft der Starken/Vornehmen beseitigen möchten.[7]

Nietzsche verwechselt hier den Entstehungs- mit dem Begründungs­zusammen­hang. Auch wenn man zeigen könnte, dass Moral aus bestimmten partikularen Interessen entsteht, sagt das noch nichts über ihre Geltung aus. Auch wenn man nachweisen könnte, dass die Moral, die von gleichen Rechten für alle Menschen spricht, aus den Interessen der Schwachen, Unter­drückten und Unter­privilegierten hervorgegangen ist, wäre damit kein Einwand gegen die Richtigkeit dieser Moral formuliert.

Nietzsche entwickelt im Gegenzug zu einer Ethik der Schwachen, die sich in erster Linie im Christentum manifestiert, eine "Ethik der Vornehmheit". An dieser Stelle muss hervorgehoben werden, dass die "Ethik der Vornehmheit" nicht individualistisch ausgerichtet ist, was viele Nietzsche-Interpreten nicht sehen oder nicht sehen möchten. Die Einzelperson (das Individuum) stellt in ihr nicht den höchsten Wert dar. Vielmehr ist diese Ethik "Art-erhaltend" und "Art-züchtend".[8] Sie ist an der Schaffung einer "Rang­ordnung" interessiert. Individuen können geopfert werden, wenn es der Züchtung eines neuen Menschen-Typus, die Züchtung des Übermenschen dient. Die Rang­ordnung begründet ein "Sonder­recht" für die Starken.[9]

Die Moral der gleichen Rechte ist nach Nietzsche "lebens­feindlich", denn sie behindert die Starken in ihrer Macht­aus­übung. Sie lässt für die Starken keine Sonderrechte zu.

Die "Ethik der Vornehmheit" soll das Verhältnis der Starken zu den Schwachen regeln. Die Letzteren sollen sich den Ersteren vollständig unterordnen. Zu diesem Zweck soll zunächst die Demokratie beseitigt werden, denn sie macht den Menschen zum "Zwerg­thiere der gleichen Rechte und Ansprüche".[10]

Die Starken sollen bei der Durchsetzung ihrer Sonderrechte und Privilegien rücksichtslos gegen die "Missrathenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten" vorgehen.[11] Sie haben das Recht, "gegen die Wesen niedrigeren Ranges, gegen alles Fremde nach Gutdünken oder 'wie es das Herz will'" zu handeln.[12]

"Das höchste Gesetz des Lebens, von Zarathustra formulirt, verlangt, dass man ohne Mitleid sei mit allem Ausschluß und Abfall des Lebens, - daß man vernichte, was für das aufsteigende Leben bloß Hemmung, Gift, Verschwörung, unter­irdische Gegnerschaft sein würde ..." [13]

Der Starke soll demnach hart, mitleidslos und skrupellos gegen die Schwachen und Minder­wertigen agieren. Dabei ist ihm jedes Mittel recht. Das entartete Leben soll rücksichtslos "nieder- und beiseite­gedrängt" werden.

Mit seiner "Ethik der Vornehmheit" legitimiert Nietzsche die Schaffung von Privilegien und Sonder­rechten für auserwählte Gruppen, Skrupel­losig­keit beim Durchsetzen eigener Interessen und Willkür. Der Wille zur Macht bestimmt Nietzsche zufolge die gesamte Wirklichkeit. Er ist das Prinzip und die Kraft, die alle Bereiche der Realität durchdringt. Im moralisch-politischen Bereich erhält Nietzsches Konzeption des Willens zur Macht eine ganz besondere Brisanz, denn sie kann dazu benutzt werden, eine Politik, der es nur um Macht­gewinnung und Macht­erhalt geht, zu legitimieren.

Postmoderner Nihilismus

Die Postmoderne ist eine einflussreiche geistig-kulturelle Strömung der Gegenwart. Doch ihre Wirkung erstreckt sich nicht nur auf den geistig-kulturellen Bereich, sondern mittlerweile auf alle relevanten Bereiche unserer Gesellschaft. Besonders stark ist ihr Einfluss in der Politik. Die Postmoderne lehnt sich an die Diagnosen und Konzepte Nietzsches an. Auch die Postmoderne ist daran interessiert, Werte wie Wahrheit, Objektivität, erkennendes und moralisches Subjekt als Zentrum der Welt, Vernunft und allgemein­gültige moralische Grundsätze aufzulösen, zu dekonstruieren.

Alexander Ulfig: Nietzsches Nihilismus: Prozesse der Auflösung, Le Bohémien am 4. März 2015
Zitat: «Die Nordkirche und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) haben kürzlich ein "Bündnis gegen Rechtspopulismus und Hass" beschlossen. Was sich am 12. Mai wie die todes­mutige Entschlossenheit gegen dämonische Kräfte las, entlarvt sich bei näherem Hinsehen als Erfolg einer jahr­zehnte­langen Strategie: SPD, Grüne und Linke haben die gesellschaftlich relevanten Institutionen inzwischen mit ihrem Personal unterwandert, um die abend­ländischen[wp] Werte zu zerstören.» - Heinz-Wilhelm Bertram[14]

Einzelnachweise

  1. Otto Ladendorf: Historisches Schlagwörterbuch (1906)
  2. Friedrich Nietzsche, Werke, Achte Abteilung, Zweiter Band, Nachgelassene Fragmente Herbst 1887 bis März 1888, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Berlin 1970, S. 14.
  3. Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: Werke, Sechste Abteilung, Dritter Band, Berlin 1969, S. 75.
  4. Friedrich Nietzsche, Werke, Achte Abteilung, Erster Band, Nachgelassene Fragmente Herbst 1885 bis Herbst 1887, Berlin 1974, S. 323.
  5. Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1993.
  6. Friedrich Nietzsche, op. cit. 1974, S. 138.
  7. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Ders., Werke, Sechste Abteilung, Zweiter Band, Berlin, 1968.
  8. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Ders. op. cit. 1968, S. 12.
  9. Friedrich Nietzsche, Werke, Achte Abteilung, Zweiter Band, Nachgelassene Fragmente Herbst 1887 bis März 1888, Berlin 1970, S. 88ff.
  10. Friedrich Nietzsche, op. cit. 1968, S. 130.
  11. Ebd., S. 291.
  12. Ebd., S. 220.
  13. Friedrich Nietzsche, Werke, Nachgelassene Fragmente Anfang 1888 bis Anfang Januar 1889, Berlin 1972, S. 402.
  14. Heinz-Wilhelm Bertram: Bahros Träume werden wahr: Zerstörung der christlich-abendländischen Werte, Kopp-Verlag am 23. Mai 2015

Querverweise

Netzverweise

Dieser Artikel basiert zusätzlich auf dem Artikel Historisches Schlagwörterbuch - Stichwort: Umwertung aller Werte von Otto Ladendorf, 1906.