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Moral

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Hauptseite » Wörterbuch » Moral

Zum Thema Moral gibt es folgende Artikel:

Standpunkte

Gerd-Lothar Reschke schreibt zu Moral:

Moral ist das in einer bestimmten menschlichen Gesellschaft vorherrschende Verhaltens­regelwerk.

Moral fördert nicht den freien Ausdruck der Lebenskraft, sondern behindert ihn. Moral macht auch nicht aus Menschen bessere Menschen, indem sie ihnen, wie oft behauptet, besseres ("gutes") Verhalten einimpft und schlechteres ("böses") Verhalten aberzieht.

Sondern derartige Denkweisen sind von einer natur­widrigen, kontrollierenden, vom Verstand bestimmten Ideologie (wie beispielsweise den Kirchen- und Sekten­religionen) propagiert - also dem genauen Gegenteil des lebens­bejahenden Ansatzes von Tantra[wp].

Der tantrische Ansatz vertraut der Lebenskraft, statt ihr zu mißtrauen, denn er weiß, daß menschliche Natur nicht "böse" oder "gefährlich" ist, sondern daß derartige Irrwege und Fehl­ausprägungen gerade von der Blockierung des natürlichen Energieflusses herkommen.

– Selbsterkenntnis-Wiki[1]

Moralpsychologie

Der Streit um Frau Aslans Äußerungen zu Rassismus bei der Polizei ist ein Paradebeispiel dafür, warum die Wahrnehmungen politischer Lager oft so drastisch auseinandergehen. Mit diesen drei Erkenntnissen aus der Moral­psychologie vertiefen Sie Ihr Verständnis solcher Debatten.
Zitat: «Ich bekomme mittlerweile Herzrasen, wenn ich oder meine Freund*innen in eine Polizeikontrolle geraten,weil der ganze braune Dreck innerhalb der Sicherheitsbehörden uns Angst macht. Das ist nicht nur meine Realität, sondern die von vielen Menschen in diesem Land. #Polizeiproblem» - Bahar Aslan[2]

Zunächst: Das ist ein Thread über empirische Moralpsychologie. Er möchte lediglich die Mechanismen sichtbar machen, die in Debatten wie dieser unter der Oberfläche wirken. Es geht mir also nicht um Bahar Aslan oder die deutsche Polizei oder die Frage, wer da jetzt Recht hat.

Empirische Moralpsychologie beschäftigt sich damit, unser moralisches Denken, Fühlen und Handeln zu verstehen. Einer ihrer wichtigen Ansätze - die "Moral Foundations Theory" - enthält drei Erkenntnisse, die gut erforscht sind und beim Verständnis des aktuellen Falls helfen.

Erste Erkenntnis: Was wir richtig oder falsch finden, basiert zunächst auf moralischen Intuitionen, nicht auf rationalen Überlegungen. Erst fühlen wir, ob wir für oder gegen etwas sind, dann erst kommen Sachargumente ins Spiel. Anders gesagt: Moral ist zunächst eine Emotion.

Sichtbar wird dieser Umstand zum Beispiel beim "Moral Dumbfounding": wenn Leute starke moralische Überzeugungen vertreten, ohne sie rational wirklich verteidigen zu können. "Das ist einfach falsch", sagen Probanden in Experimenten dann gerne, beispielsweise dieser Situation: (Q1)

Zitat: «Julie und Mark sind Bruder und Schwester. Sie reisen zusammen in den Schulferien nach Frankreich. Eines Nachts übernachten sie allein in einer Hütte in der Nähe des Strandes. Sie beschließen, dass es interessant wäre und Spaß machen würde, wenn sie versuchen würden, miteinander zu schlafen. Julie hat bereits die Antibabypille genommen, aber Mark benutzt sicherheitshalber auch ein Kondom. Beide genießen den Sex, aber sie beschließen, es nicht wieder zu tun. Sie bewahren diese Nacht als ein besonderes Geheimnis, wodurch sie sich noch näher zueinander fühlen.»

Zweite Erkenntnis: Moralische Intuitionen können auf mehreren Grundlagen beruhen. In der Literatur werden sechs solcher Fundamente unterschieden: Fürsorge, Fairness, Loyalität, Autorität, Reinheit und Freiheit. Was damit jeweils gemeint ist, wird hier kurz erklärt:

  1. Fürsorge (care): Wertschätzung und Schutz der anderen; Gegenteil von Schaden (harm)
  2. Fairness: Gerechtigkeit, nach gemeinsamen Regeln streben; das Gegenteil von Betrug (cheating)
  3. Loyalität: Einstehen für die Gruppe, die Familie, die Nation; das Gegenteil von Verrat (betrayal)
  4. Autorität: sich der Tradition und der legitimen Autorität unterwerfen; das Gegenteil von Subversion
  5. Unversehrtheit und Reinheit (sanctity/purity): Abscheu vor ekelhaften Dingen, Lebensmitteln, Handlungen; Gegenteil von Verfall (degradation)
  6. Freiheit (liberty): Abwesenheit von Zwang, Nötigung durch eine andere Person; Gegenteil von Unterdrückung (oppression)

Dritte Erkenntnis: Wie Persönlichkeits­merkmale sind auch diese moralischen Grundlagen bei jedem Menschen ein bisschen anders ausgeprägt und gewichtet. Wir suchen uns das nicht aus: Unsere Moral ist teils Genetik, teils Umweltprägung. Sie kann sich mit der Zeit ändern. (Q2)

Diese Punkte erklären, warum Leute dieselbe Situation ganz anders bewerten können. Jemand mit Fürsorge­ausprägung sieht vielleicht inakzeptable Polizei­gewalt gegen Schutz­bedürftige, wo jemand mit Autoritäts­ausprägung die Ausübung legitimer Staatsgewalt gegen Subversive sieht.

Diese Mechanismen wirken individuell, aber auch auf auf der kollektiven Ebene. Politische Lager formieren sich nicht nur um Themen herum, sondern auch auch um geteilte moralische Grundlagen. Die Graphik zeigt solche Unterschiede anhand des politischen Spektrums der USA. (Q3)

Scores on the MFQ (2011).jpg

Lesen Sie Frau Aslans Tweet mal aus dieser Perspektive. Wenn Sie eher links im Spektrum stehen, sehen Sie darin evtl. einen wichtigen Hinweis auf die Fürsorge- und Fairness­pflicht der Staatsgewalt. Den potenziell enthaltenen Angriff auf Autorität finden Sie weniger relevant.

Wenn Sie weiter rechts im Spektrum stehen, sehen Sie evtl. eher einen inakzeptablen pauschalen Angriff auf die Polizei als legitime Institution und Teil der staatlichen Autorität, die Respekt und Loyalität verdient. Das ist Ihnen (mindestens) so wichtig wie Fürsorge und Fairness.

Neben anderen Dingen prägen solche moralischen Bauchgefühle, was wir im vorliegenden Fall entdecken. Sie helfen auch, das allseits sichtbare Unverständnis darüber zu erklären, wie die andere Seite überhaupt zu ihrer Bewertung kommt: anders gewichtete moralische Grundlagen.

Und weil wir alle anfällig für Bestätigungsfehler[wp] sind, prägen moralische Intuitionen wohl auch unsere Bewertung der Fakten, also die Sachebene. Diese Mechanismen zu verstehen und zu berücksichtigen, wäre ein guter Schritt hin zu einer besseren politischen Streitkultur.

Falls Sie sich zum Abschluss Ihre eigenen moralischen Grundlagen näher anschauen wollen: Hier ist ein nach eigener Aussage wissenschaftlich validierter Test. Für eine erste Annäherung sollte es wahrscheinlich reichen:

Moralischer Grundlagen-Test, idrlabs.com
Quellen
Q1: https://doi.org/10.1525/collabra.79
Q2: https://doi.org/10.1007/s12110-020-09380-7
Q3: ISBN 978-0141039169 (m. E. bester Einstieg ins Thema)
– Titiat Scriptor[3]

Literatur

  • Rupert Lay[wp]: Die Macht der Moral. Unternehmenserfolg durch ethisches Management., Econ 1991, ISBN 3-430-15918-0[4]

Einzelnachweise

  1. Gerd-Lothar Reschke: Moral, Selbsterkenntnis-Wiki (vormals Tantra-Wiki)
  2. Twitter: @baharaslan_ - 20. Mai 2023 - 13:20 Uhr
  3. Twitter: @titiatscriptor - 23. Mai 2023 - 10:00 Uhr
  4. Online auf Scripd.com: Die Macht der Moral

Netzverweise

  • Youtube-link-icon.svg Die rechte und die linke Realität der Flüchtlingskrise (1. Mai 2016) (Länge: 16:06 Min.)
    Wie die moralischen Prinzipien der Schadens­abwendung, der Fairness und der Freiheit bei Rechten und Linken durch selektive Wahrnehmung zu entgegen­gesetzten Deutungen der Flüchtlings­krise führen. Ein Blick anhand der moral­psychologischen Forschung von Jonathan Haidt[wp].
  • Youtube-link-icon.svg Moralisten auf dem Kriegspfad - zur Psychologie moderner Zivilreligionen (30. April 2016) (Länge: 11:42 Min.)
    Trump und die AfD sind Reaktionen auf die politische Korrektheit, aber religions­artige politische Glaubens­systeme dieser Art finden sich nicht nur links, sondern überall. Ein Blick auf ihre psychologischen Grundlagen anhand der moral­psycho­logischen Forschung von Jonathan Haidt[wp].
  • Intellektuelle in der Politik: Moralisten, schweigt!, Spiegel Online am 14. Oktober 2011
    Weil sie selbst die Maßstäbe verloren hat, verlangt die Gesellschaft nach moralischer Deutung. In die Lücke stoßen gerne selbsterklärte Intellektuelle, die von der Sache kaum etwas verstehen, aber schnelle Urteile liefern. Wahre Denker widerstehen den Verführungen der Praxis. - Ein Debattenbeitrag von Paul Liessmann[wp]
    • Hadmut Danisch: Selbsterklärte Intellektuelle, die von der Sache kaum etwas verstehen, aber schnelle Urteile liefern, Ansichten eines Informatikers am 14. Oktober 2011
      Ich habe gerade im SPIEGEL einen philosophischen Text von Paul Liessmann gefunden, der mich (der Text, nicht der Paul...) sehr begeistert und sicherlich zum wirklich besten gehört, was ich an Gesellschafts­kritik bisher gelesen habe. Sollte man unbedingt lesen!
      Was mir an dem Text vor allem so gefällt, daß er nicht nur ein Seitenhieb, sondern ein wirklich ver­nichtender Volltreffer ist, der so gut trifft, daß er das, was er trifft, nicht einmal mit einer Silbe konkret erwähnen muß. Man sieht es beim Lesen förmlich vor dem Auge, was er meint. Er beschreibt eine gesellschaftliche Fehl­entwicklung in ganz hervor­ragender Weise und mit einer Sicht, die meiner eigenen (und einigen meiner Blog-Artikel) genau entspricht, es aber viel besser formuliert. Ich betrachte das daher durchaus als Bestätigung und Ergänzung einiger meiner früheren Artikel.
  • Benjamin Seiler: Der Kinsey-Report: Eine Fälschung mit Folgen, Zeiten*Schrift Nr. 37 (Alfred Charles Kinsey)
    Wie ein wertloser Sexbericht die Moral der modernen Gesellschaft untergraben konnte - und weshalb man dies noch förderte.
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